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Gestern habe ich auf Facebook eine Kritk zu unserer TABU-Sendung zum Thema Adipositas erhalten. Sie ist berechtigt, ausführlich und gut und ein wertvoller Beitrag zur Diskussion. Aber ich möchte gar nicht zu viel vorwegnehmen, lest sie selbst. Darunter habe ich meine Antwort angefügt.

(Den Text habe ich unverändert von Facebook hier reinkopiert)

Kritik zur Sendung „Tabu Thema: Menschen mit Übergewicht“ von Renato Kaiser vom Sonntag 8.9.19 auf SRF Schweizer Radio und Fernsehen, teilen erwünscht:

Hallo Renato

Ich habe gestern mit einer Freundin, die sich als dick positioniert über die Folge von Tabu über Menschen mit „Übergewicht“ gesprochen. Sie hat mir erzählt, wie es ihr ergangen ist, als sie die Sendung geschaut hat und auch ich komme aus dem cringen nicht heraus, wenn ich deinen Umgang mit der Thematik grosser Körper sehe.

Ich schreibe dir aus der Position einer schlanken BPoC. Nicht weil ich denke, dass ich für Menschen mit grossen Körpern oder Mehrgewicht sprechen muss oder kann aber weil ich versuche, mich als Komplizin aller marginalisierten Personen zu verstehen und somit meine Energie für diese Kritik einzusetzen. Ausserdem möchte ich versuchen zu verhindern, dass Menschen Aufklärungsarbeit leisten müssen, die auf den Verletzungen basiert, die ihren Alltag prägen und welche auch in deiner Sendung am laufenden Stück reproduziert wurden.
Vielleicht wurde für die Produktion dieser Sendung kein bis kaum research zu Fatphobia, Body Positivity, angemessener Sprache, Köprerdiversität (die Liste wäre noch lange) gemacht.

Die Lebensrealitäten von Menschen mit grossen Körpern, ist oftmals geprägt von ungefragten Tipps, paternalistischen Verhaltensmustern ihrer Mitmenschen, Verweigerung medizinischer Versorgung, Infrastrukturen, welche zur Unsichtbarmachung ihres Körpers beitragen, geforderte Rechtfertigungen für ihre Existenz, Hate crimes und die internalisierte Verachtung der eigenen Person aufgrund all dieser Erlebnisse, was in der Sendung teilweise erwähnt wurde, aber nicht kritisiert.
Wenn Mehrgewicht thematisiert wird, dann seine Vernichtung. Das implizierte Fehlverhalten der betreffenden Person und die Reue und Schuld, die sie für ihr alleiniges Dasein aufbringen muss, um in unserer Gesellschaft überhaupt wahrgenommen zu werden.

Beispielsweise der Titel der Folge und das immer und immer wieder verwendete Wort „Übergewicht“ impliziert ein Falschsein eines Grossen Körpers, weil es sich an einer Norm orientiert. Auch die verwendete Sprache richtet sich nicht an einem Empowerment grosser Körper. Beispielsweise sind dick und fett Begriffe, welche viele Menschen mit Stolz reclaimen. Das soll nicht heissen, dass es – in Anbetracht des jetzigen Standes unserer Gesellschaft – okay ist, zu entscheiden, Menschen Fett zu nennen, ohne dass sie es wünschen, weil die Begriffe meist noch negativ konnotiert sind, aber dass die bevormundende Haltung einer Deutungshoheit ausgehend von Menschen, die einem Normbild entsprechen toxisch ist.
Auch dass Diäten die meist verbreitete Ursache für Essstörungen sind wäre erwähnenswert gewesen.

Das alles und noch viel mehr ist deshalb frustrierend, weil sich einerseits viele Menschen extrem viel Arbeit für die Aufklärung um die Lebgensrealitäten von Personen mit grossen Körpern machen, meine Freundin ist eine davon.

Spannend wäre beispielsweise gewesen, die Systematik der Ungesund-Machung Grosser Körper zu thematisieren. Dass beim Kontakt zwischen einer schlanken und einer Mehrgewichtigen Person direkt davon ausgegangen wird, dass der grosse Körper ungesund ist und dass das ein Problem darstellt, welches zu ungefragten Kommentaren oder Tips einlädt.
Oder dass Menschen medizinische Versorgung verweigert wird, weil direkt – ohne Abklärung oder ohne Anhören des eigentlichen Anliegens der Patient*in – darauf geschlossen wird, dass das „Übergewicht“ Grund für die Krankheit ist und ihnen somit eine Behandlung ausserhalb dieser Thematik verweigert wird.
Oder dass ein Magenband mit Zwangsbullimie verglichen werden kann.

Sich über dieses System lustig zu machen und über die von Ignoranz geprägten Haltungen der Mehrheitsgesellschaft gegenüber Menschen mit grossen Körpern, das wäre in meinen Augen sinnvoller gewesen, als whacke fat jokes, wie sie auf jedem Schulhof zu finden sind – whack ist Geschmackssache – erst recht, wenn ein weiterer weisser, schlanker cis Typ dafür bezahlt wird.

Ich möchte keinesfalls die Realitäten und Entscheidungen und Aussagen der dicken Personen, die an deiner Sendung teilgenommen haben verurteilen. (Damit würde ich genauso paternalistisch handeln, wie ich es eben kritisiert habe.) Nicht jede Person mit grossem Körper ist Körperaktivist*in und die Prozesse zur Selbstakzeptanz haben verschiedene Gesichter. Noch weniger ist es meine Absicht, ihnen ihre Taktiken, Gedanken und Aussagen abzusprechen, ihre Entscheidungen sind none of my business. Ich bin froh, um ihre Bereitschaft, sichtbar zu werden und sich einer ihnen gegenüber vielleicht gewalttätigen Welt auszusetzen. Schön wäre nur gewesen, wenn das Ganze auch als sicherer Raum dahergekommen wäre und dazu wäre Vorarbeit nötig gewesen, die dies zum Ziel hat.
Mir geht es um den Rahmen, der geschaffen wurde, die Fragen und was sie implizieren.
Vielleicht wäre es auch spannend gewesen, eine weitere Person dabeizuhaben, die sich mit den politischen und gesellschaftlichen Aspekten des Dick-Seins beschäftigt.

Fakt ist, dass eine Körperdiversität existiert. Dass Dicke, Fette, Grosse Phatte Körper gesund sein können, sie schön und begehrenswert sind. Dass wir als Gesellschaft und als Mitmenschen Verantwortung übernehmen müssen, Systeme und Normbilder hinterfragen und aufhören müssen, Erwachsene Menschen bevormunden zu wollen. Wenn Körper nicht in Stühle passen, ist das nicht, weil sie zu gross sind, sondern weil in unserer Gesellschaft für ein spezifisches Körperbild designt wird und das ist das Problem – nicht der Körper, der sich frei bewegen will.

Grundsätzlich finde ich, dass die Bühne, die dir geboten wird, auch für einen Wandel unserer Gesellschaft eingesetzt werden könnte.

Ich hoffe, diese Gedanken stossen etwas an und schicke dir anbei ein paar Quellen, bei denen du dich für ein anderes Mal und allgemein informieren kannst.

Lieber Gruss
S.

Blog – Wir müssten reden

Insta – Your Fat Friend

(Und hier meine Antwort:)

Hallo S.

Merci für die gute, ausführliche Kritik. Ich muss ganz ehrlich sagen – und das geht auf meine Kappe – über einige Dinge, die Du hier aufzählst, war ich nicht informiert. Zum Beispiel dass die Wörter „dick“ und „fett“ reclaimed wurden und dass „Mehrgewicht“ statt „Übergewicht“ gesagt wird. Die Frage stellt sich, zu Recht, warum ich das nicht wusste. Und wie gesagt, das nehme ich auf mich. Ich hatte mich mehr mit dem Thema Adipositas an sich auseinandergesetzt als mit Fatshaming, Body Positivy, etc., wahrscheinlich weil ich zu einem kleinen Teil meinte, jene Sachen schon verstanden zu haben (ja, ich weiss, ein gängiger Fehler) und andererseits, weil ich dachte, jene Aspekte werden mir die Protagonist*innen genauer erklären, nach dem Motto: Die wissen doch am besten, was Sache ist. Hier möchte ich einfügen: Das ist ein bisschen der Knackpunkt an der Sache. Vom Konzept her sollte unser Aufeinandertreffen in der Sendung jenes Aufeinandertreffen in der Gesellschaft simulieren, das noch zu wenig stattfindet. Das heisst, durchaus auch ein bisschen ein naives Aufeinandertreffen, bei dem Fehler passieren können. Dementsprechend versuchte ich einerseits, mich vorher mit dem Thema einigermassen angemessen auseinanderzusetzen, aber gleichzeitig nicht wie ein überinformierter Gelehrter daherzukommen, der es schlussendlich besser zu wissen meint, als die Protagonist*innen selbst. Halt eben so „normal“ wie möglich. Nur ist das eben (wie die ganze Sendung) ebenfalls eine Gratwanderung. Je nach dem, auf welche Seite man kippt, ist man zu unbedarft, tritt in zu viele Fettnäpfchen und ist im schlimmsten Falle beleidigend oder man ist besserwisserisch und damit wieder bevormundend. Die goldene Mitte ist das Ziel, wie so oft, und in dieser Folge scheint mir das nicht ganz gelungen zu sein. Denn Du hast Recht: Diese Aspekte, die Du aufgezählt hast, kamen (eben auch von meiner Seite) zu wenig, oder anders gesagt: Ich war offensichtlich nicht up to date. Dementsprechend froh bin ich um Deine Rückmeldung, darum habe ich sie auch direkt mal geteilt (vor dieser Antwort), da wahrscheinlich viele andere ebenfalls ein Update brauchen können.

Ein weiterer Knackpunkt ist: Wir orientieren uns in diesem Konzept sehr fest an den Protagonist*innen und lassen sie erzählen. Sie stehen im Fokus, im Mittelpunkt, ich frage nur, bin Stichwortgeber, kommentiere kaum und ordne nur teilweise ein. Die Einordnung wird schlussendlich dem Publikum zugemutet und auch zugetraut. Das soll aber keine Ausrede sein, sondern eher eine Erklärung, schliesslich haben wir als Sendungsmacher immer noch eine Verantwortung und wenn ich besser up to date gewesen wäre, hätte ich es zum Thema machen können. Das versäumt zu haben, tut mir leid. Unglücklicherweise war es bei allen drei Protagonist*innen so, dass sie – eben auch eher „klassisch“ – „fett“ am schlimmsten fanden, „dick“ so naja und „übergewichtig“ eigentlich am stimmigsten. Ich glaube, allen drei ist der Begriff „mehrgewichtig“ nicht bekannt. All das hatte dementsprechend auch Einfluss auf den Stand Up, da ich mich dafür an den Protagonist*innen und ihren Aussagen (vor und hinter der Kamera) orientiert habe – ein weiterer Grund dafür, dass die von Dir aufgezählten Aspekte weiter in den Hintergrund gerieten.
Dementsprechend wäre es, wie Du sagst, wünschenswert gewesen eine weitere entsprechende Protagonist*in dabei zu haben und diesen Vorwurf müssen wir uns, was das Casting angeht, ebenfalls gefallen lassen. Beim Casting-Prozess war ich persönlich kaum involviert, weil ich die Protagonist*innen vor der Sendung nicht zu gut kennen durfte (eben wegen des „erstmaligen Aufeinandertreffens“, siehe oben). Wär so eine Person dabei gewesen, hätten sich die Gespräche und somit auch der Stand Up automatisch auch in diese Richtung entwickelt. Das ist so nicht passiert und das ist bedauernswert.

Was die weiteren Punkte angeht, die Du in der Sendung vermisst hast, stimme ich Dir nur teilweise zu. Grundsätzlich kann man (vermeintlich) salopp sagen: Die Sendung ist nur 35min und dementsprechend fallen einige Dinge raus, die aus verschiedenen Gründen nicht mehr reinpassen. Manchmal ist zum Beispiel ein weiterer Aspekt superinteressant, da aber auf ihm nicht der Hauptfokus liegt, darf er nicht zu viel Sendezeit beanspruchen, sodass man schlussendlich sagen muss: Das wäre jetzt sehr spannend und geil, aber ich müsste dafür 7min Sendezeit aufwenden (um ihn angemessen erzählen zu können) und die habe ich nicht, unter anderem wegen all der anderen Sachen, die sich aus weiteren, verschiedenen Gründen besser eignen (wobei Du da natürlich eine andere Auswahl getroffen hättest, klar). Ich weiss nicht, ob ich das verständlich genug ausdrücken konnte, das ist ein bisschen „nacherzählt“ von dem, was ich von meinen Redaktor*innen gehört habe (in der redaktionellen Arbeit und im Schnitt kenne ich mich nicht professionell aus). Abgesehen vom salopp daherkommenden „es passt nicht alles rein, irgendwo muss man entscheiden und kürzen“ meinte ich aber, dass gewissen Themen, die Du aufgezählt hast, zum Beispiel die trügerische Wirkung und gefährliche Darstellung von Diäten, die Ignoranz der Mehrheitsgesellschaft, die Ungesund-Machung grosser Körper, durchaus besprochen wurde. Grade was den letzten Punkt angeht habe ich etwas im Stand Up dazu gemacht. Mein Ansatz dazu war eher: „Das findet Ihr ungesund und krank? Schaut uns doch an, wir sind alle ungesund und krank!“ Das empfand ich humoristisch interessanter als „Hey Leute, wir sind alle gesund und schön.“ Das ist eine Botschaft und keine Pointe. Das ist zwar richtig, aber nicht lustig. Ganz allgemein meine ich trotz allem mehr gemacht zu haben als ein paar whacke fat jokes, wie sie auf dem Schulhof zu finden sind, aber wie Du gesagt hast, ist das Geschmackssache – und ich bin befangen, schliesslich bin ich ja ich. Wäre ja komisch, wenn ich die alle whack fände. Also nicht nur, weil ich ein einigermassen schlanker, weisser Cis-Hetero-Mann bin, sondern weil ich ja die Witze geschrieben habe.

Und auch in den Gesprächen wurden Themen, die Du aufgezählt hast, angesprochen. Die Sätze wurden jedoch, wie oben beschrieben, so stehengelassen und nicht weiter kommentiert, die Interpretation einigermassen offengelassen. Bei mir kamen die entsprechenden Passagen aber nicht so rüber wie bei Dir, damit meine ich: Einiges, das Du unten beschrieben hast, habe ich genauso in ihren Antworten verstanden. Aber man muss auch sagen: Ich war vier Tage mit ihnen zusammen, dementsprechend habe ich mehr von ihnen gehört, als man schlussendlich in der Sendung sieht. Es kann daher durchaus sein, dass ich das deswegen anders wahrnehme als das reguläre Publikum. Ein weiterer Grund, warum ich froh bin um Deine Rückmeldung.
Unter anderem auch, weil die Rückmeldungen sonst zum grössten Teil dermassen positiv waren. Da ist so etwas nicht nur interessant, sondern auch notwendig. Denn offensichtlich meldet sich damit ein Flügel dieses Tabuthemas zu Wort, den mindestens ich, und ich denke wahrscheinlich auch einige andere, nicht auf dem Schirm hatten. Ich bin froh, dass sich das jetzt geändert hat, sowohl bei mir als auch bei all jenen, die Deine Kritik (und die angehängten Links) ebenfalls gesehen und gelesen haben.

Zum Abschluss noch zu Deinem abschliessenden Satz:
„Grundsätzlich finde ich, dass die Bühne, die dir geboten wird, auch für einen Wandel unserer Gesellschaft eingesetzt werden könnte.“

Das finde ich auch. Und ich kann sagen, dass wir das versucht haben. Dass wir dabei offensichtlich die in Deiner Kritik geäusserten Aspekte nicht genug beachtet haben, heisst zwar, dass der Versuch nicht zu hundert Prozent erfolgreich war – aber deswegen auch nicht zu 100 Prozent gescheitert. Schlussendlich versteht sich diese Sendung durchaus auch als Diskussionsbeitrag, der sich als Teil des Wandels unserer Gesellschaft sieht und ihn anzutreiben versucht. Das gelingt mal besser, mal schlechter, wichtig ist, dass man sich dabei viel Mühe gibt und dass die Diskussion an sich weitergeht. Zum Beispiel mit einer Kritik Deinerseits. Und mit einer Antwort meinerseits. Ich hoffe, sie war einigermassen zufriedenstellend.

Liebe Grüsse
Renato